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Was ist kein System?

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Wir Systems Engineers wissen natürlich genau, was ein System ist. Wirkliches Verständnis des Begriffs beweist man aber meines Erachtens erst, wenn man auf die Frage „Was ist kein System?“ Gegenbeispiele parat hat. Daher habe ich mir den Spaß gemacht, auf dem INCOSE EMEA Workshop im September alle Systems Engineers, die den Fehler begingen, sich in der Kaffeepause neben mich zu stellen, danach zu fragen. Hier folgt eine Auswahl der Antworten:

„... ist kein System“:

  • ein Eichhörnchen
  • Loriots Familienoriginalbenutzer
  • die Milchstraße
  • ein Legoauto
  • Microsoft Word
  • Kants „Kritik der reinen Vernunft“
  • Shakespeares „Romeo und Julia“
  • die Liebe
  • eine Klasse

 

Nun, das mit dem Eichhörnchen kann eigentlich nicht stimmen, war doch Ludwig von Bertalanffy1 , der Vater der Systemtheorie, selbst Biologe. Von ihm stammt die Definition

„Ein System ist eine Menge von Elementen in Interaktion“ (zitiert nach dem SEBoK2 ).

Und ein Eichhörnchen hat definitiv eine Menge von Elementen (Organe in diesem Fall) die interagieren.

Einige der genannten Beispiele beziehen sich darauf, dass Systeme  einen angegebenen Zweck haben müssen. Welchen Zweck hat zum Beispiel der Familienoriginalbenutzer, der in Loriots Sketch als völlig zweckfrei beschrieben wird? Tatsächlich steht in der ISO 15288

„System: Kombination von interagierenden Elementen organisiert um einen oder mehrere angegebene Zwecke zu erfüllen“ (zitiert nach dem SEBoK).

Andere wiederum sagten, Systeme müssen menschengemacht sein, weswegen die Milchstraße ausscheidet. Im INCOSE Systems Engineering Handbuch3  steht dazu allerdings

„Die in ISO/IEC/IEEE 15288 und die in diesem Handbuch betrachteten Systeme [...] sind von Menschen geschaffen“.

Nun gehört ja wohl nicht zur Definition eines Terms, dass er Betrachtungsgegenstand eines bestimmten Handbuchs oder einer Norm ist.

Das nächste angegebene Kriterium war, dass ein System multidisziplinär sein muss, weil sonst ja kein disziplinübergreifend tätiger Systemingenieur notwendig wäre. Eine Software wie Word oder ein rein mechanisches Legoauto würden also ausscheiden. Ein mit Elektromotoren angetriebenes Legoauto wäre demzufolge hingegen gültig. Kann die Definition aber wirklich davon abhängen, ob ein typischer Systems Engineer sich für ein System interessiert?

Also was ist denn nun die richtige Definition? Tatsächlich kommt es natürlich darauf an. Einen Grund für eine möglichst allgemeine Definition liefert das INCOSE Handbuch selbst:

„[Systemtheorie versucht] disziplinübergreifende Komplexitätsmuster […] zu identifizieren, zu untersuchen und zu verstehen. Dabei sollen interdisziplinäre Grundlagen als Basis für Theorien hergeleitet werden, die auf alle Systemarten (z. B. natürliche, soziale, technische) […] angewendet werden können. […] Sie soll helfen, dass praktisch anwendbare Konzepte zu Systemen, Prinzipien, Muster und Werkzeuge entwickelt werden und denen zur Verfügung gestellt werden, die im beruflichen  Alltag  Systemansätze  verfolgen.

Mit anderen Worten: Systeme egal welcher Art haben etwas gemeinsam. Deshalb kann man bestimmte Erkenntnisse, die man bei der Erforschung eines Systems oder auch der allgemeinen Systemtheorie gewinnt auf alle anderen Systemarten übertragen (wahrscheinlich eher bei komplexen Systemen interessant, das ändert aber nichts an der Definition). Je allgemeiner der Systembegriff, desto nützlicher ist also die Erforschung von Systemen.

In „Defining 'System': A Comprensive Approach“4 schlagen die Autoren daher ein umfassendes Rahmenwerk vor. Ihre Definition lautet:

System: Ein zusammengesetztes Ganzes, dessen Eigenschaften durch seine Bestandteile, sowie die Beziehungen zwischen den Teilen begründet sind.

Diese Definition schließt sowohl reale als auch konzeptuelle Systeme mit ein (siehe Diagramm unten, auf UML umgestellt und ergänzt vom Autor). Beide haben gemeinsam, dass sie emergente Eigenschaften haben. In realen System entstehen sie durch direkte physische Interaktion zwischen den Teilen. In konzeptuellen Systemen wird ein Prozessor (ein Gehirn oder ein Computer) benötigt, der aus dem System Informationen auf höherer Ebene generiert (interessant ist, dass die Autoren System und Modell gleichsetzen).

Nach dieser Definition ist also auch ein Gedankengebäude wie die „Kritik der reinen Vernunft“ ein System. Ein Schauspiel wie „Romeo und Julia“ ist in mehrerlei Hinsicht ein System: Aufgeführt ist es ein soziales System, gedruckt ist es ein System aus Buchstaben, die zusammen Wörter, Sätze und schließlich das Schauspiel ergeben. Zusätzlich ist es ein von Lesern und Theaterbesuchern geteiltes mentales Modell.

Bleibt noch die Liebe. Natürlich bezeichnet nicht jeder Begriff ein System. Sobald wir das Bezeichnete allerdings in Bestandteile zerlegen und emergente Eigenschafen entdecken, könnte auch die Liebe ein System sein. Meines Wissens hat das noch niemand getan. Daher ist das Gefühl „Liebe“ wohl momentan kein System.

Eine Klasse schließlich beschreibt Struktur und Verhalten von Objekten. Diese Objekte können natürlich Systeme sein, müssen aber nicht. Meines Erachtens beschreibt eine Klasse genau dann ein System, wenn sie Bestandteile und nur summative und emergente Eigenschaften definiert, die sich aus den Bestandteilen und ihrer Interaktion ergeben. Als Beschreibung ist eine Klasse zudem selbst ein System aus Attributen, Operationen und Zusicherungen.

Zurück zur Ausgangsfrage: Was ist denn nun definitiv kein System? Meine Antwort: ein Lego-Bausatz! Das ist eine Menge von Elementen, die aber nicht interagieren. Diese Menge hat zwar auch Eigenschaften, sie ergeben sich aber durch einfache Aufsummierung (etwa das Gesamtgewicht).


1. Bertalanffy, L. (2015). General system theory : foundations, development, applications. New York: George Braziller, Inc. ↩

2. Guide to the Systems Engineering Body of Knowledge (SEBoK). (2017, March 27). in BKCASE Editorial Board, Guide to the Systems Engineering Body of Knowledge (SEBoK), version 1.8, R.D. Adcock (EIC), Hoboken, NJ: The Trustees of the Stevens Institute of Technology ©2017. Retrieved 18 Oct 2017 13:15:58 ↩

3. Walden, D., Roedler, G.,  Forsberg, K., Hamelin, R. & Shortell, T. (2017). INCOSE Systems Engineering Handbuch : ein Leitfaden für Systemlebenszyklus-Prozesse und -Aktivitäten. München: GfSE e.V. ↩

4. Sillitto, H., Dori, D., Griego, R. M., Jackson, S., Krob, D., Godfrey, P., Arnold, E., Martin, J. and McKinney, D. (2017), Defining “System”: a Comprehensive Approach. INCOSE International Symposium, 27: 170–186. doi:10.1002/j.2334-5837.2017.00352.x ↩

Bild Familienbenutzer von Mardor ist lizensiert unter der Creative Commons - Attribution Lizenz.